© Clovis Michon / tritonus e.V.

Worte

für Streichquartett (2021), 9 Min.
Auftragswerk im Rahmen von BTHVN 2020

Jedes Wort ist eine (Klang-)Landschaft, akustisch und metaphorisch betrachtet: die unterschiedlichen Klangeigenschaften eines jeden Wortes ergeben sich aus der Zusammenstellung von einzelnen Phonemen, die jeweils weich, hart, hell, trübe, verborgen, explodierend, ausbreitend, unscharf, subtil, körperlos, zwiespältig, androgyn, fließend, … sein können. Mit Hilfe der Spektralanalyse nähere ich mich dem Klang eines jeden Wortes so an, bis ich den jeweils innigsten Berührungspunkt, in dem die Ton- und Geräuschanteile sich individuell entfalten und zugleich ineinander verschlingen, abtasten kann. Diese sinnliche Erfahrung, wie jede Silbe mit der anderen Kontakt aufnimmt und ihre Farben sich mischen, projiziere ich auf die Klangwelt meines Streichquartetts.

Die textliche Grundlage, die mir in meiner musikalischen Auseinandersetzung zur Sprachanalyse diente, war eine zen-buddhistische Rede von Meister Yunmen. Zusammen mit anderen daoistischen Texten kam ich der Rede näher und suchte nach einer Möglichkeit, diese mit dem Bibeltext in einen Dialog zu bringen. In der Tiefe begegnet sich das „Wort“: einerseits ist das Wort „Fleisch“ geworden (Johannes 1,14) und bleibet ewiglich (Jesaja 40,8), andererseits „entleert“ sich das Wort und sollte besser vergessen werden (Zhuangzi: „Reusen-Gleichnis“). Dieses Verkörpern und Verbergen reflektiere ich in meiner Musik.

In Goethes „Faust“ wird an einer Stelle über die bestmögliche deutsche Übertragung des Beginns der Johannes-Offenbarung philosophiert. Dabei wird die Vieldeutigkeit des altgriechischen Ausdrucks „Logos“ [λόγος] herauskristallisiert: Von „Im Anfang war das Wort“, über „Im Anfang war der Sinn“ und „Im Anfang war die Kraft“ gelangt Faust schließlich zu „Im Anfang war die Tat“. Das Zeichen „道“ [/tɑʊ̯51/ gesprochen; „Dao“ in alphabetischer Schreibweise] hat mehrere „neutrale“ Gehalte: es kann je nach Kontext als Sprechen, Wort, Weg, Vernunft, Regel, Lehre, Methode, … verstanden werden. Mit diesem kulturellen Verständnis wurde der gleiche Bibeltext in der Han-chinesischen Übertragung (Chinese Union Version, 1910) theologisch gedeutet als: „Im Anfang war das Dao“. Die Transformation vom Wort zur Musik spiegelt auch diese Vielfalt an Interpretationen und Artikulationen.

PULSE
Johannes Haase (Violine)
Joosten Ellée (Violine)
Yuko Hara (Viola)
Jakob Nierenz (Violoncello)

Aufführungen

ab 02.2022 | digital | Schreyahner Gesprächskonzert | PULSE: Johannes Haase, Joosten Ellée, Yuko Hara, Jakob Nierenz
13.–19.06.2021 | online | tritonus-Festival 2020/21 | »ausbrechende Subjektivität« Das Streichquartett in Beethovens Spätwerk und im 21. Jahrhundert | Uraufführung | PULSE: Johannes Haase, Joosten Ellée, Yuko Hara, Jakob Nierenz